Redundanzius und Ambivalenzius – oder die zwei Gesichter der hilfreichen „Heiligen“

Wiederholung ist die Mutter der Weisheit

Lähmend sind sie immer mal wieder diese Beiden: Redundanz und Ambivalenz. Das stimmt. Ein ganz bestimmtes Gefühl, so eine Art  „metallische“, „quecksilbrige“ Schwäche, in meiner Muskulatur ist es meist, das mich die Anwesenheit des einen oder anderen dieser Beiden überhaupt erst bemerken lässt. Zunächst, so haben wir gelernt, ist die Wiederholung ja die Mutter der Weisheit. Beim Auswendiglernen von Gedichten, beim Lernstoff einpauken haben wir damit alle schon so unsere Erfahrungen gemacht. So weit, so gut.

Wenn aus der Wiederholung lähmende Redundanz wird

Aber kennen Sie das auch: wenn aus Wiederholungen Redundanzen werden, Wiederholungsschleifen in Gedanken und Worten. Wenn – sei es in der Werbung oder in der Politik –  ständige Wiederholungen von Fakten oder auch Nichtfakten sich in unser Denken und Fühlen einschleichen, ja eingraben. Wenn im direkten Gespräch das Gegenüber einen zutextet mit Argumentationen, die sich im Kreis herumdrehen, mit Worthülsen, die über lange Zeit Aufmerksamkeit erheischen und binden, ohne auch nur die geringste neue Information zu beinhalten. Wenn man womöglich selbst sich ertappt bei dem Erkennen, dass genau das, was einem gerade durch den Kopf schießt und vorgaukelt, es sei ein neuer Gedanke, man nicht etwa nur neulich schon irgendwo einmal gehört hat – nein, schlimmer: dass es zum wiederholten Mal der selbe Gedankengang ist, der einem durchs Gehirn werkt wie ein leicht unrund laufender Betonmischer – und wieder – und wieder…

Das bremst aus, das lähmt, das drückt irgendwann auf die Stimmung und raubt einem Antriebs- und Lebenskraft.

Ja? Nein? Jain!

Oder aber die  Ambivalenz – das wiederholte Hin und Her zwischen dem Einen und dem Anderen, dieses elende sich weder argumentativ noch emotional Durchringen können zu einer Entscheidung zwischen Beiden oder für oder gegen Beide. Oder der wechselnden Abfolge in kleineren oder größeren Intervallen.

Die Wirkung der Ambivalenz auf unsere Befindlichkeit ist noch komplexer und vielschichtiger. Redundanzen lähmen, aber zumindest kann man sie vermindern und vermeiden lernen. Die Ambivalenz hingegen ist unvermeidlich, ja sogar notwendig, behaupte ich. Darauf komme ich noch zurück. Und das, auch wenn sie uns wirklich keine guten Gefühle macht und wir sie meist am liebsten schnell verjagen, wegdrücken oder vollkommen auflösen würden.

Das Gegen-teil als helferfigur

Und dennoch bezeichne ich diese beiden Phänomene als „Helferfiguren“ – und wie ich darauf komme, erzähle ich Ihnen gerne:

Im November 2004 hörte ich einen Vortrag von Verena Kast über NEID im Bürgerhaus meines Wohnorts Gräfelfing. Mutig fand ich es damals allein schon, Neid zu thematisieren. Überrascht war ich über das ausverkaufte Haus. Und mitgenommen habe ich die Aussage: man muss dem Neiderreger dankbar sein. Denn er weist einen auf etwas hin, das man selbst auch gerne haben – sein – verwirklichen möchte.

Und seither frage ich grundsätzlich nach dem freundschaftlichen Anteil dessen, was mir begegnet, in welch´ auch immer zunächst feindlich erscheinenden Form. Der Bayer behauptet ja schon immer: es gibt nix Schlecht´s, was ned sei Guads hätt´. Und nach diesem Guadn halte ich unentwegt Ausschau, mit großer Auswirkung auf meine Befindlichkeit. Das ist schon einmal der erste hilfreiche Punkt: allein durch die Suche nach dem anderen Teil, dem Gegen-teil, gelingt es, Abstand zu gewinnen und nicht mehr (vollends) hilflos gesteuert zu werden, von dem, was einen da gerade am Wickel hat. Doch damit noch nicht genug.

Die helferfiguren – eine kraftquelle

Kommen wir noch einmal auf die Redundanz zurück. Redundant wird die Wiederholung oder das immer wieder Bezug nehmen erst, wenn die Sätze leer werden, weil sie keine neue Bedeutung und Informationen beinhalten. Dann kommt es zu dieser lähmenden Wirkung.

Die andere Seite dieser Lähmung kann aber auch die Wut sein. Die Wut darüber, wenn ich mich selbst sozusagen einlulle mit Wiederholungen, von deren Substanzlosigkeit ich längst weiß, kann mir die Kraft geben, damit endlich aufzuhören. Die Wut kann mich veranlassen, umzudenken, in die Handlung zu kommen. Oder eine heilige Wut darüber, dass von unserem Gegenüber die unserer Meinung nach falschen Dinge und gar wider besseres Wissen behauptet werden und durch die Wiederholung nicht wahrer werden. Oder wenn Glaubenssätze fallen, die bei uns einen Schalter drücken, der Alarm auslöst und uns in die Kraft bringt. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ ist für mich so ein Satz, der meinen Widerspruch erregt und mich hellwach macht.

Was sind Ihre News oder Fakenews, die Sie so richtig in Gang oder gar in Rage bringen?

Homo sapiens et ambivalens

Womöglich noch komplexer und vielschichtiger ist es mit der Ambivalenz, habe ich vorhin behauptet, und die Ambivalenz sei sogar notwendig. Warum denn das, wozu sollten wir diese Spannungen und Missgefühle denn brauchen?

 

Als Kinder steht es uns noch zu, im Denken, Fühlen und Handeln zwischen Extremen hin- und hergerissen zu sein. Wir müssen uns in unseren verschiedenen Facetten erst einmal kennenlernen und erfahren dürfen. Für Pubertierende aller Altersstufen ist das „himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“ sprichwörtlich, und wenn wir verliebt sind, wird es uns selbst als Greisen noch nachgesehen.

Das Erwachsenenalter generell verlangt uns immer wieder ab, Widersprüchliches nebeneinander stehen lassen, aushalten zu können. In uns selbst, in Form der Meinung und den Werten und Vorlieben der Anderen. So gesehen ist die Ambivalenz ja auch Ausdruck von Wissen über die Existenz von mehr als meinem beschränkten Eigenen und damit gehört es zum homo sapiens, spätestens wenn er anfängt zu wissen, dass er nichts weiss.

Die eigene Welt in Frage zu stellen kostet energie…

Das braucht Energie, Spannkraft, moralische Kraft der Akzeptanz, des Respekts, der Neugier auf das Andersartige, aus dem ich Neues hereinnehmen kann in mein Weltbild. Kraft kostet es, meine Welt damit in Frage zu stellen, auf ein einfaches Richtig oder Falsch, Gut oder Böse zu verzichten. Auch wenn widrigerweise die in meinem eigenen limbischen System gespeicherten Ängste zur meist unrechten Zeit ausgelöst werden und sich melden, wenn Angst größer ist als Liebe, wenn der Zweifel den Verstand vernebelt.

Welche Erfahrungen sind es, die bei Ihnen ein irritierendes Funkengewitter im Gehirn hervorzubringen vermögen? Wo haben Sie schon ganz persönliche Engpässe ausmachen können, die Ihr bewußtes Wollen in Frage zu stellen vermögen?

… und baut spannkraft auf

Mein Gefühl wünscht sich oft auch eine rasche Lösung. Die Spannung soll aufhören, sofort. Aber statt Kurzschlüsse zuzulassen oder in Haudraufmanier zu urteilen, auszugrenzen, abzuschalten, lerne ich, Spannung auszuhalten, baue ich zunehmende Spannkraft auf. Bemühe ich mich, Dinge unterscheidend wahrzunehmen. Sie erst einmal wirken zu lassen, ohne zu bewerten. Widersprüche auszuhalten, das Eine und das Andere getrennt voneinander zu halten, und sogar wertschätzen lernen. Das macht mich weiter in meinem Denken und Fühlen, mitfühlender für andere Menschen, Meinungen und Handlungsweisen. Es läßt mich zunehmend kreativ werden für ausgewogenes Miteinander, für gute Kompromisse. Es läßt die Freude am Prozeß wachsen und befreit die Abhängigkeit von „Lösungen“ generell. Denn niemals ist das Problem das Problem, die Lösung ist das Problem – oder die Fixierung auf eine Lösung, die ohnehin immer nur ein nächster Schritt im Prozess sein kein.

Baustein für weltoffene Individuen und unsere plurale Gesellschaft

Und alles das verdanke ich der Ambivalenz! Überraschend für mich daran ist, dass sich das täglich spürbar auswirkt: Zum einen auf den Umgang mit mir selbst, zum Anderen auf den Kontakt mit den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Ich erlebe mich als viel offener, als neugierig statt ängstlich. Damit wende ich mich dem Leben und der Welt zu, statt mich abzuwenden oder gar zurückzuziehen. Meine Lebensenergie wächst statt zu schwinden. Der gereifte Umgang jedes Einzelnen mit der Ambivalenz führt dazu, dass die Bereitschaft von uns Individuen für eine offene plurale Gesellschaft Stück für Stück wachsen kann und damit in letzter Konsequenz unsere Demokratiefähigkeit insgesamt. Damit wir uns den Trumps, Orbans, Söders dieser Welt, die mit schnellen und einfachen Lösungen verführen wollen, entgegenstellen können, mit einer lebendigen und lebensbejahenden Grundhaltung und einem dynamischen, wachstumsorientierten Konzept.

Und jetzt stellt sich doch nochmal eine ganz andere Frage im Hinblick auf die Lebensenergie: was kostet am Ende mehr oder weniger davon?